Anthroposophie als Kulturimpuls

Als der Mine­ral­dün­ger sei­nen Sie­ges­zug begann, ent­wi­ckel­te Rudolf Stei­ner den bio­lo­gisch-dyna­mi­schen Land­bau. Als mit der Erfin­dung des Kunst­stoffs die Appa­ra­te-Medi­zin vor­an­ge­trie­ben wur­de, ent­stand mit der anthro­po­so­phi­schen Medi­zin das Kon­zept einer moder­nen ganz­heit­li­chen Heil­kun­de. Als Sig­mund Freud mit Begrif­fen wie Ver­drän­gung und Über­tra­gung die Psy­cho­ana­ly­se form­te, zeig­te Rudolf Stei­ner, dass die mensch­li­che Psy­che ohne die Reinkar­na­ti­ons­leh­re nicht zu begrei­fen ist. Anthro­po­so­phie strebt immer danach, die Erkennt­nis­se und Beob­ach­tun­gen der geis­ti­gen For­schung ins prak­ti­sche Leben zu füh­ren.

100 Jah­re Anthro­po­so­phie

In die­sem Jahr fei­ern die ers­ten anthro­po­so­phi­schen Initia­ti­ven ihren 100. Geburts­tag, wie bei­spiels­wei­se in Basel der Para­cel­sus-Zweig. Hun­dert Jah­re – die­se Zeit­span­ne ist nicht nur mathe­ma­tisch im Dezi­mal­sys­tem eine run­de Sache, son­dern auch in Bezug auf den Men­schen hat sie als 3 x 33,3 Jah­re beson­de­res Gewicht. Zwar kann das Leben eines ein­zel­nen Men­schen 100 Jah­re umfas­sen, aber vom Blick­punkt der gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung braucht es inner­halb eines Jahr­hun­derts drei Genera­tio­nen, die sich den Ball wei­ter­rei­chen, um eine Idee vor­an­zu­brin­gen. Die heu­ti­gen Ver­ant­wort­li­chen in den anthro­po­so­phi­schen Ein­rich­tun­gen, sei es in Schu­len, Kli­ni­ken oder auf Bau­ern­hö­fen, gehö­ren gröss­ten­teils zur drit­ten Genera­ti­on. Das ist die­je­ni­ge Genera­ti­on – und das gilt nicht nur für die Anthro­po­so­phie, son­dern für alle Kul­tur-Inno­va­tio­nen –, die als letz­te über ihre Leh­rer und Aus­bil­der noch etwas vom Ursprung, von der Quel­le der tra­gen­den Ide­en erfah­ren hat. Mit der drit­ten Genera­ti­on ste­hen zum letz­ten Mal Men­schen in der Ver­ant­wor­tung, die emp­fin­den, Weg­be­rei­ter und Pio­nier von etwas Neu­em zu sein.

Vom Mono­log zum Dia­log

Ging es frü­her dar­um, Rudolf Stei­ners Ide­en und Anre­gun­gen in die Pra­xis umzu­set­zen und deren Frucht­bar­keit unter Beweis zu stel­len, erge­ben sich nun für die anthro­po­so­phi­schen Unter­neh­mun­gen neue Her­aus­for­de­run­gen. Es wird wich­ti­ger, die anthro­po­so­phi­schen Erkennt­nis­se über den Men­schen und die Natur im Dia­log mit ver­schie­dens­ten Part­nern wei­ter zu ent­wi­ckeln. Oder noch grund­sätz­li­cher: Die Fra­ge, was eine Insti­tu­ti­on zu einer anthro­po­so­phi­schen macht, muss neu beant­wor­tet wer­den. Äus­se­re Insi­gni­en wie der stump­fe Win­kel in der Archi­tek­tur oder die ver­trau­te Rog­gen­kamp-Schrift leis­ten nur noch den Dienst, Erken­nungs­si­gnal zu sein.
In der Spra­che der Unter­neh­mens­ent­wick­lung wird die­ser Pro­zess als der Wan­del von der Pio­nier­pha­se in die Orga­ni­sa­ti­ons- und Inte­gra­ti­ons­pha­se beschrie­ben. Wie über­all ist solch ein Wan­del in der Auf­ga­ben­stel­lung mit Kri­sen, aber auch neu­en Per­spek­ti­ven ver­bun­den. Wie kön­nen die­se neu­en Blick­rich­tun­gen aus­se­hen?

Bei­spie­le aus dem Land­bau…

In den letz­ten zehn Jah­ren hat sich die Saat­gut­züch­tung im Deme­ter-Land­bau erfolg­reich ent­wi­ckelt. Trotz der zum Teil lang­wie­ri­gen Zulas­sungs­pro­zes­se der staat­li­chen Über­wa­chungs­äm­ter für neue Getrei­de­sor­ten gelang es, ertrags­star­kes und zugleich vita­les neu­es Saat­gut für Getrei­de und Gemü­se auf den Markt zu brin­gen. Dabei wur­den neue Wege in der Beur­tei­lung der vie­len Zucht­stäm­me gegan­gen: Eini­ge Züch­ter berück­sich­ti­gen die Ein­schät­zun­gen von Men­schen, die durch per­sön­li­che Schu­lung in der Lage sind, die geis­ti­gen Vital­strö­me und äthe­ri­schen Kraft­fel­der der ein­zel­nen Kei­me über­sinn­lich wahr­zu­neh­men und qua­li­ta­tiv ein­zu­ord­nen. Dabei zeigt sich, dass sich die sinn­lich-über­sinn­li­che Metho­de und die kon­ven­tio­nel­le che­mi­sche und spek­tro­sko­pi­sche Mas­sen­ana­ly­se frucht­bar ergän­zen.

… aus der Medi­zin …

Aus den Erkennt­nis­sen der Rhyth­mus­for­schung über das kom­ple­xe rhyth­mi­sche Spiel von Atem- und Puls­fre­quenz ent­stand die Idee, eine neue Früh­erken­nung von Erschöp­fungs­krank­hei­ten zu ent­wi­ckeln. Der von der Wele­da mit­be­grün­de­ten Fir­ma Heart­Ba­lan­ce ist es gelun­gen, das Mit­ein­an­der von Puls- und Atem­rhyth­mus exakt über einen Tag auf­zu­zeich­nen und in ein Bild zu trans­for­mie­ren, so dass geschul­te Augen Vor­bo­ten von Krank­hei­ten erken­nen, Aus­sa­gen über Schlaf­de­fi­zi­te, see­li­sche oder kör­per­li­che Über­an­stren­gun­gen machen kön­nen. Damit sind es nicht mehr, wie bei der klas­si­schen Puls-Mes­sung, die ein­zel­nen Rhyth­men, die etwas über Gesund­heit und Krank­heit aus­sa­gen sol­len, son­dern das Ver­hält­nis der Rhyth­men, ihr gemein­sa­mes Kon­zert.

… und aus der Päd­ago­gik

In eini­gen anthro­po­so­phi­schen Schu­len wird gegen­wär­tig erprobt, in den ers­ten Schul­klas­sen auf Stuhl und Tische zu ver­zich­ten und statt des­sen situa­tiv ver­schie­de­ne beweg­liche Sitz­ord­nun­gen am Boden ein­zu­neh­men. „Bochu­mer Modell“ wird die­se Unter­richts­form genannt, die das Ziel hat, dem Kör­per­ge­fühl der jün­ge­ren Schul­kin­der bes­ser zu ent­spre­chen. Die­se Ände­rung hat jedoch zur Fol­ge, dass vie­le der bis­her erfolg­rei­chen Gewohn­hei­ten und übli­chen Ver­hal­tens­for­men im Klas­sen­zim­mer der Rudolf Stei­ner Schu­len unter neu­em Blick­win­kel hin­ter­fragt wer­den müs­sen. Gleich­zei­tig gewinnt man neu die Über­zeu­gung, was unver­zicht­ba­rer Bestand­teil einer anthro­po­so­phi­schen Pä­dagogik ist. Dies gilt zum Bei­spiel für die Kin­der­be­spre­chun­gen inner­halb der Leh­rer­kon­fe­ren­zen. Alle Leh­rer tra­gen ihre Beob­ach­tun­gen über ein bestimm­tes Kind zusam­men, um ein mög­lichst rei­ches Bild des Schü­lers zu zeich­nen. Gang, Vor­lie­ben und Ver­hal­ten auf dem Schul­hof gehö­ren zu die­sem Bild genau­so wie die fami­liä­re Situa­ti­on und sein Enga­ge­ment im Unter­richt. Wer die Wir­kung einer sol­chen Anteil­nah­me an der Ent­wick­lungs­si­tua­ti­on eines Kin­des beob­ach­ten konn­te, wird wohl nicht mehr dar­an zwei­feln, wie stark Gedan­ken, vor allem die­je­ni­gen einer gan­zen Gemein­schaft, Wir­kung besit­zen.

Die Fra­ge nach dem Gan­zen

Die Fra­ge, was eine Insti­tu­ti­on aus­zeich­nen soll­te, damit sie als anthro­po­so­phisch gel­ten kann, ist damit noch nicht beant­wor­tet. Die Ant­wort liegt zwi­schen zwei Beob­ach­tun­gen: Zum einen leuch­tet Anthro­po­so­phie über­all dort unmit­tel­bar auf, wo mit Ernst und ohne Vor­be­hal­te nach dem Gan­zen gefragt wird: im Land­bau nach der Pflan­ze in ihrem Zusam­men­hang mit der gesam­ten Ster­nen­welt, in der Päd­ago­gik bis hin zu den zu ahnen­den vor­ge­burt­li­chen Ent­schlüs­sen jedes ein­zel­nen Schü­lers, in der Medi­zin bis zur bio­gra­phi­schen Dimen­si­on der Erkran­kung eines Pati­en­ten.
Gleich­zei­tig liegt in der Anthro­po­so­phie ein sol­cher Reich­tum an Mög­lich­kei­ten, dass in Anleh­nung an Hein­rich Bölls visio­nä­ren Aus­spruch über das Chris­ten­tum ver­mu­tet wer­den darf: „Anthro­po­so­phie hat noch gar nicht ange­fan­gen.“
Autoren151

Fach­per­son Wolf­gang Held
Arbeits­schwer­punk­te Jahr­gang 64, Astro­nom, schreibt
und hält Vor­trä­ge zu naturwissen­schaftlichen und anthro­po­so­phi­schen
The­men. Er ist zustän­dig für die
Öffent­lich­keits­ar­beit am Goe­thea­num.
Kon­takt wolfgang.held@goetheanum.ch

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