
Ein erhöhter Blutdruck kann viele Ursachen haben. Ebenso vielfältig sind die möglichen Therapieansätze. In der Anthroposophischen Medizin werden gute Ergebnisse mit der Heileurythmie erzielt. Rob Schapink, Heileurythmist an der Klinik Arlesheim, hat dies im Rahmen seiner Masterarbeit in einer demnächst publizierten Einzelfallstudie aufzeigen können und berichtet für „Quinte“ darüber.
Zum ersten Mal nach zwanzig Minuten lehnt sich Frau Werner* auf dem Stuhl nach hinten und beschliesst mit dem Satz „Alles ist Stress für mich!“. Ihren Monolog, mit dem sie ihr momentanes Befinden schilderte. Sie hat über ihre aktuelle Lebenssituation erzählt, in der sie sich mehrmals täglich über Familienmitglieder aufregt, auch über ihren jetzigen Lebenspartner sowie über aktuelle und frühere Ereignisse in ihrem Leben. Immer wieder fragt sie zwischendurch: „Warum regt mich das so auf?“ Es ist offensichtlich, dass sie sehr unter ihrem jetzigen Zustand leidet. Sie erlebt einen inneren Druck, den sie ständig in sich verspürt und worin sie sich wie „gefangen“ vorkommt. Entsprechend erlebt sie ein „Ohnmachtsgefühl“, dem sie sich nicht entziehen kann. Dazu fühlt sie sich sehr erschöpft und äussert, dass sie schlecht schläft, wobei sie sowohl ihr schlechtes Ein- als auch ihr Durchschlafen bemängelt. Ihre Stimmung beschreibt sie als leicht depressiv.
Eine lange Vorgeschichte
Frau Werner ist 66 Jahre alt und leidet schon seit 16 Jahren an einem erhöhten Blutdruck. Sie erwähnt, dass dieser trotz der Medikamente in letzter Zeit stark angestiegen ist. Sie nimmt seit Beginn ihrer Diagnose zwei blutdrucksenkende Mittel, einen Beta-Blocker und ein Sartanpräparat – Sartane sind blutdrucksenkende und gefässerweiternde Wirkstoffe. Seit 2012 bekommt sie auch anthroposophische Medikamente: Cardiodoron-Tropfen und Aurum-Stibium-Hyoscyamus-Globuli. Damals war sie wegen Burnout-Symptomen in einer anthroposophischen Klinik und lernte so die Anthroposophische Medizin kennen. Diese hat sie als sehr positiv, aufbauend und für sich hilfreich erlebt. Sie erzählt, dass in ihrer Familie sowohl ihre Eltern als auch alle ihre vier Geschwister für einen erhöhten Blutdruck bekannt waren und sind. Frau Werner raucht nicht und trinkt nur ein bis zwei Gläser alkoholische Getränke pro Woche. Da sie im Moment so stark unter den beschriebenen Symptomen leidet, nimmt sie gern an der Einzelfallstudie teil, die ich im Rahmen meiner Masterarbeit an der Alanus Hochschule in Zusammenarbeit mit der Klinik Arlesheim verfasse. Frau Werner wird versuchen, mit Heileurythmie ihre Beschwerden zu lindern. Im Folgenden fasse ich die Ergebnisse meiner Studie entsprechend der Studienabschnitte zusammen.
Biographisches
Frau Werner wurde als viertes von insgesamt fünf Geschwistern geboren. Sie war das einzige Mädchen und musste sich gegen ihre Brüder „durchsetzen“. Die Familie war traditionell orientiert, es wurde hart gearbeitet und nicht auf individuelle Befindlichkeiten eingegangen. Der Vater war sehr streng gegenüber den Brüdern, was Frau Werner als ungerecht empfand. Sie erlebte sich selbst in der Familie als „kontra“ und rebellisch. Ihre Mutter verstand das nicht. Sie war überfordert mit der Arbeit und den fünf Kindern. Frau Werner musste deshalb sehr viel Arbeit übernehmen bei der Erziehung des jüngsten Bruders. Sie erlebte, dass dadurch sehr viel Freude ihrer Jugend weggenommen wurde, und entschied daraufhin, selbst keine Kinder zu bekommen.
Als Frau Werner 18 Jahre alt war, starb ihre Mutter im Alter von 52 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Sie übernahm daraufhin den ganzen Haushalt. Zwei Jahre später heiratete der Vater erneut, was die Patientin nur schwer akzeptieren konnte. Sie zog aus und lebte bis zur eigenen Eheschliessung selbstständig. Frau Werner arbeitete als Büroangestellte in einem grösseren Unternehmen. Sie heiratete zweimal, wurde zweimal geschieden. Ihren zweiten Mann bezeichnet sie als ihre „grosse Liebe“. Trotzdem liessen sie sich scheiden, denn der Mann mochte nicht weiter an der Beziehung arbeiten. Frau Werner verkraftete das nicht gut, und in jener Zeit begann der erhöhte Blutdruck manifest zu werden. Frau Werner machte nach der zweiten Scheidung selbstständig viele Reisen und erfüllte sich damit lang gehegte Wünsche, was in ihren Partnerschaften nicht möglich gewesen war. Seit ungefähr sechs Jahren lebt sie mit ihrem jetzigen Partner zusammen. Seit 2012 hat die Patientin Teilzeit gearbeitet, und vor anderthalb Jahren wurde sie pensioniert.
Der Studienverlauf
Bei einer Therapieeinheit werden nach einem kurzen Anfangsgespräch eine halbe Stunde lang heileurythmische Übungen gemacht. Danach folgt eine Ruhepause von ungefähr dreissig Minuten, während derer Frau Werner sich hinlegt und manchmal sogar einschläft. Für die Therapie werden verschiedene Übungen ausgewählt, um regulierend auf den Blutdruck wirken zu können: Übungen zur Beruhigung und Aufbau der Lebenskräfte (Hexameter-Schreiten mit einer Kupferkugel und die S-M-L-Übung) und eine Übung, bei der die Niere stark angesprochen wird (A-A-B-Übung). Die Nieren sind sehr zentral-regulatorisch tätig im Organismus bei der Erhaltung des Blutdrucks. Deshalb ist es wichtig, sie in einer Blutdruckbehandlung mit einzubeziehen. Frau Werner fühlt sich am Anfang der Studie ziemlich unsicher, weil sie sich selbst wegen ihrer Hüftarthrose in der Bewegung als sehr wacklig erlebt. Trotzdem ist sie fest entschlossen, die Studie zu ermöglichen, und fängt nach ein bis zwei Wochen an, täglich ihre Übungen selbständig durchzuführen. Morgens und abends misst sie ihren Blutdruck selbst und bringt jede Woche ihre Werte mit. Mit der Zeit stellt Frau Werner fest, dass sie nach der Heileurythmie eine bessere Schlafqualität hat, und verlegt deswegen ihr Üben vom Morgen auf den Abend. Sehr schön ist zu beobachten, dass sie nach einiger Zeit beweglicher und in der Bewegung leichter wird. Auch sie selbst ist darüber sehr erstaunt. Von den Übungen, die sie sich in den zwölf Therapieeinheiten während der zwölf Wochen aneignet, wählt sie die für sie zugänglichsten zum selber Üben aus. Übungen, die sie sehr gerne macht, sind die sogenannte I-A-O-Übung, das Ballen und Spreizen der Arme sowie die L-Übung auf Herzhöhe, eine fliessende Bewegung, bei der die Arme in einem ruhigen Schwung vom Brustbein aus nach vorne und dann bogenförmig über links und rechts zum Brustbein zurückgeführt wird. Vor allem das Hexameter-Schreiten mit einer Kupferkugel zu einem Gedicht von Christa Slezak-Schindler** hat sie besonders gern. Einmal ruft sie am Ende dieser Übung plötzlich ganz freudig: „Ich liebe dieses Gedicht!“. Am Ende der Therapieperiode schildert Frau Werner, dass sie während Wanderungen in der Natur deutlich mehr wahrnehme als früher und sich viel mehr an den Schönheiten der Natur erfreuen könne.
Ergebnisse
Der Blutdruck hat sich über die Gesamtperiode der Therapie sowohl systolisch (oberer Wert) als auch diastolisch (unterer Wert) um 10 mm Hg gesenkt. Zusätzlich hat Frau Werner auf vielen Ebenen eine verbesserte Lebensqualität erhalten: Ihre Erschöpfung hat sich fast aufgelöst, sie wurde innerlich ruhiger. Ihre Stimmung hat sich gehoben, und ihre Schlafstörungen haben sich verringert.
Über dieses doch sehr schöne Resultat freut sich Frau Werner ausserordentlich, und sie äussert am Ende, sehr froh zu sein, diese Studie mitgemacht zu haben. Sie möchte die Übungen selbständig weiter pflegen und hofft, dass sie das Durchhaltevermögen dazu besitzt.
Schlussfolgerung
An dieser Einzelfallstudie einer Patientin mit erhöhtem Blutdruck zeigt sich eindrücklich, dass diese Erkrankung auch eine biographische und psychosomatische Komponente hat und mit der ganzen Persönlichkeit der Patientin zusammenhängt. Die Symptome und die Verbesserungen zeigten sich bei der Patientin sowohl auf physiologischer als auch psychologischer Ebene. Das weist daraufhin, dass die Heileurythmie eine ganzheitliche Regulationsfähigkeit anregen kann.
**Geh’ deine ruhigen Schritte
Und siehe die Weiten der Erde,
Die in der Hülle des Himmels
Geborgen sich weiss und gehalten.
Die von der Sonne die Wärme
Das Licht empfängt und das Leben.
Das Institut für Eurythmietherapie der staatlich anerkannten Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn widmet sich der Entwicklung von Forschungsansätzen, die der besonderen Behandlungsart der Heileurythmie gerecht werden. In Zusammenarbeit mit der Forschungsabteilung der Klinik Arlesheim wird die Wirksamkeit der heileurythmischen Behandlung verschiedener Krankheitsbilder untersucht.
*Name von der Redaktion geändert
Fachperson |
Rob Schapink |
Arbeitsschwerpunkte | Heileurythmist an der Klinik Arlesheim seit Juni 2018. Medizinstudium an der Freien Universität in Amsterdam (NL). Eurythmiestudium in Dornach (CH). Masterstudiengang Eurythmietherapie in Alfter bei Bonn (D). |
Kontakt | rob.schapink@klinik-arlesheim.ch |