Alles eine Frage der Haltung

In der Schweiz ist Wahl­jahr. Die­sen Herbst wur­de unse­re Bun­des­ver­samm­lung neu gewählt. Wir beur­teil­ten die Men­schen nach ihrer poli­ti­schen Hal­tung und Sta­tur. Ist er oder sie halt­bar oder unhalt­bar oder gar halt­los? Wer zeigt Rück­grat, wer ist unbeug­sam, wer macht vor wem Bück­lin­ge? Wem wird der Rücken gestärkt, wer ist hin­ter­rücks, und wer ist rück­sichts­los?
Eine Fra­ge der Hal­tung, der auf­rech­ten Hal­tung, der Auf­rich­tig­keit. Die einen Jugend­li­chen prä­sen­tier­ten sich in stram­mer Hal­tung auf Wahl­pla­ka­ten, die meis­ten Jugend­li­chen aber inter­es­siert das wenig, sie geben sich läs­sig. Eine Pro­test­hal­tung gegen die auf­rech­te, aber nicht immer auf­rich­ti­ge Hal­tung der Erwach­se­nen­welt.

Der Rücken hat in der Spra­che einen beson­de­ren Sym­bolgehalt. Es gibt einen engen Zusam­men­hang zwi­schen den für Rücken und Wir­bel­säu­le ver­wen­de­ten Begrif­fen und den Tätig­kei­ten und Eigen­schaf­ten, die eng mit dem See­li­schen zusam­men­hän­gen. Am deut­lichs­ten zeigt sich dies im Wort Hal­tung, das sowohl für unse­re kör­per­li­che als auch für unse­re inne­re, see­li­sche Hal­tung ver­wen­det wird. Dies ist viel­leicht der Grund, war­um sich die Eltern beson­de­re Sor­gen um den Rücken und die Hal­tung ihrer Kin­der und Jugend­li­chen machen. So ist ein „krum­mer Rücken“ ein recht häu­fi­ger Grund für eine Kon­sul­ta­ti­on beim Kin­der­arzt.

Die auf­rech­te Hal­tung

Mit dem auf­rech­ten Gang stellt sich der Mensch in die Schwer­kraft und Raum­ver­hält­nis­se. Damit steht er unter allen Lebe­we­sen ein­zig­ar­tig da. Der Mensch muss sei­ne auf­rech­te Hal­tung nach der Geburt im Ver­lauf der ers­ten Lebens­jah­re selbst aus­bil­den.

Wor­durch wird die­se Auf­rich­tung bewirkt? Es ist das Ich, das uns im wachen und bewuss­ten Zustand gegen die Schwer­kraft auf­rich­tet und gegen die­se Schwer­kraft arbei­tet. Die Ent­wicklung des auf­rech­ten Gangs bedingt eine Son­der­form der Wir­bel­säu­le. Die­se ent­wi­ckelt sich von der ein­fach ge­krümmten Wir­bel­säu­le des Fetus und Neu­ge­bo­re­nen zur dop­pelt-s-för­mig gebo­ge­nen Wir­bel­säu­le des Erwach­se­nen.

Die Ent­wick­lung von der hori­zon­ta­len Lage geschieht vom Kopf her. Dabei wan­dert der Schwer­punkt des Kör­pers die Wir­bel­säu­le ent­lang in Rich­tung Becken. Zunächst hebt das Kind das Köpf­chen. Mit 3 Mona­ten stützt sich der Säug­ling in Bauch­la­ge auf die Ell­bo­gen, mit 5 Mona­ten stützt es sich mit den Hän­den ab und hebt sei­nen Kopf immer mehr von der Unter­la­ge ab. Damit geht die Aus­bil­dung der Krüm­mung der Hals­wir­bel­säu­le ein­her. Mit 6 bis 8 Mona­ten ist das Kind fähig, im Sit­zen den Kopf kon­trol­liert zu hal­ten. Aber der Rücken ist noch ganz gekrümmt. Mit dem Gehen­ler­nen beginnt die Krüm­mung der Len­den­wir­bel­säu­le. Aber erst vor der Puber­tät geht die Rücken­form in die der Erwach­se­nen über. Inter­es­sant ist, dass sich par­al­lel zu die­ser Auf­rich­tung die Augen-Mund-Hand-Koor­di­na­ti­on ent­wi­ckelt.

Mit dem frei­en Gehen im Ver­lauf des 2. Lebens­jah­res hat das Kind einen ers­ten Mei­len­stein erreicht. Es hat sich aus sei­nem Ich her­aus einen frei­en Umgang mit der Schwer­kraft erar­bei­tet, kann frei ste­hen und damit die Arme frei im Gesichts­feld betä­ti­gen und die­se Tätig­keit mit den Augen kon­trol­lie­ren.

Der auf­rech­te Mensch in den drei Raum­di­men­sio­nen

Der Mensch stellt sich mit dem auf­rech­ten Gang nicht nur in die Schwer­kraft, son­dern setzt sich auch mit den drei Raum­di­men­sio­nen aus­ein­an­der. Wel­che Qua­li­tä­ten üben die­se auf den Men­schen aus?

Die Wir­bel­säu­le schwingt zwi­schen vorn und hin­ten. Der vor­de­re Raum ist unser Seh­raum. In ihn grei­fen die Arme und Hän­de gestal­tend ein. Hier lebt unser Tages­be­wusst­sein. Den hin­te­ren Raum sehen wir nicht, ihn haben wir viel weni­ger im Bewusst­sein. Hier haben wir unser so genann­tes Nacht­be­wusst­sein. In der Dimen­si­on vor­ne / hin­ten erle­ben wir unmit­tel­bar den Zusam­men­hang mit dem Füh­len. Vie­le Gefüh­le kön­nen wir in die­ser Dimen­si­on durch unse­re Hän­de und Augen aus­drü­cken.

Oben ruht frei das Haupt. Hier domi­niert die Kugel­ge­stalt, wäh­rend nach unten, bei den Bei­nen die Längs­ge­stalt vor­herrscht. Im Kopf­be­reich sind wir in der Leich­te und in der Ruhe, im unte­ren Bereich in der Schwe­re und in der Bewe­gung. Wenn wir uns ein stamp­fen­des, trot­zen­des Kind vor Augen füh­ren, wird uns der Zusam­men­hang die­ser Raum­di­men­si­on mit dem Wil­len erleb­bar. In der Rechts-links-Dimen­si­on wird der Mensch eigent­lich gespie­gelt. Vie­le Orga­ne sind paa­rig ange­legt, ins­be­son­de­re die Sin­nes­or­ga­ne. Mit ihnen spie­geln wir die Aus­sen­welt, bil­den sie ab, als Grund­la­ge für die Vor­stel­lung. Spie­geln, reflek­tie­ren ist eine wich­ti­ge Eigen­schaft unse­res Den­kens, so dass wir die­ser Dimen­si­on das Den­ken zuord­nen kön­nen.
So wird erleb­bar, wie innig unse­re auf­rech­te Erschei­nung mit unse­rer Ich-Kraft und den See­len­qua­li­tä­ten zusammen­hängt. Es ist äus­serst inter­es­sant, die Zusam­men­hän­ge der Gestalt­bil­dung und der see­li­schen und Persönlichkeitsentwick­lung des Kin­des zu unter­su­chen. Vie­les kann durch genau­es Beob­ach­ten unmit­tel­bar erleb­bar wer­den. Rudolf Stei­ner hat uns in sei­nem Werk gross­ar­ti­ge Ein­bli­cke dazu gege­ben.

Ein­flüs­se auf unse­re Hal­tung

Unse­re Hal­tung ist nicht ein kon­stan­tes ana­to­mi­sches Merk­mal, son­dern eine Moment­auf­nah­me. Sie ist von der see­li­schen Ver­fas­sung und der Kon­sti­tu­ti­on eben­so abhän­gig wie von der Form der Wir­bel­säu­le. In beson­de­rem Mass ist die Hal­tung vom Zustand der Mus­ku­la­tur abhän­gig und die­se vor allem vom Trai­nings­stand.

Im Wachs­tum ist eine gewis­se Mus­kel­schwä­che nor­mal. Erst mit Abschluss des Wachs­tums kann die Mus­ku­la­tur opti­mal trai­niert wer­den. Die see­li­sche Ver­fassung hat einen ganz wesent­li­chen Ein­fluss auf unse­re Hal­tung. Füh­len wir uns gut, vol­ler Selbst­ver­trau­en und Zuver­sicht, dann gehen wir in auf­rech­ter Hal­tung und strah­len die­se Stär­ke auch aus. Unser Blick ist offen, nach vorn gerich­tet, unse­re Arme und Hän­de sind frei. Wir kön­nen die Last tra­gen, nichts beugt uns. Wir sind offen und bereit für unse­re Umwelt. Wenn wir aber Kum­mer haben, Kon­flik­te, wenig Selbst­ver­trau­en, beugt sich unser Rücken von der Last, der Blick ist gegen den Boden gerich­tet, die Arme hän­gen nach unten. Wir schlies­sen uns ab.

Was hat es nun mit dem „krum­men Rücken“ auf sich?

Kommt ein Kind mit einem „krum­men“ Rücken in die Sprech­stun­de, muss zuerst ent­schie­den wer­den, ob es sich um eine Stö­rung des Bewe­gungs­ap­pa­ra­tes han­delt oder um einen Hal­tungs­typ. Es gibt nicht den Nor­mal­rü­cken, son­dern Norm­va­ri­an­ten ohne Krank­heits­wert. Solan­ge die Krüm­mung durch Vor- und Rück­wärts­nei­gen und eine aktiv auf­ge­rich­te­te Hal­tung aus­ge­gli­chen wer­den kann, han­delt es sich um eine Hal­tungs­va­ri­an­te. Von einer patho­lo­gi­schen (kran­ken) Form spre­chen wir, wenn die Krüm­mung der Wir­bel­säu­le fixiert ist, also durch Bewe­gung nicht mehr aus­ge­gli­chen wer­den kann.

Gera­de in der Puber­tät ist eine schlech­te Hal­tung „nor­mal“. Die Jugend­li­chen sind einer­seits vie­len inne­ren Kon­flik­ten aus­ge­setzt, ande­rer­seits gren­zen sie sich, mit einer demons­tra­tiv schlech­ten Hal­tung gegen­über dem Erwach­se­nen- Hal­tungs­ide­al ab. Fer­ner gilt eine betont läs­si­ge Hal­tung als in und cool. Durch das beschleu­nig­te Wachs­tum gibt es zudem ein Miss­ver­hält­nis zwi­schen Skelett­wachstum und Mus­kel­ent­wick­lung, was zu einer Fixie­rung der Krüm­mung füh­ren kann. Stän­di­ge Ermah­nun­gen zur auf­rech­ten Hal­tung sind hier kontra­produktiv und wir­ken ver­schlech­ternd.

Inne­re und äus­se­re Bewe­gung und Kräf­ti­gung

Die The­ra­pie setzt an ver­schie­de­nen Punk­ten an; einer­seits bei der Kräf­ti­gung der Mus­ku­la­tur. Die­se wird am bes­ten durch eine mit Freu­de und Lust aus­geübte sport­li­che Betä­ti­gung des Kin­des erreicht. Fin­det sie in einem unter­stützenden, guten sozia­len Rah­men statt, wirkt dies noch ver­stär­kend.

Wich­tig ist ande­rer­seits die Arbeit an der Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung und -ent­fal­tung des Kin­des. Dies ermög­licht dem Kind, sich von innen her­aus auf­zu­rich­ten. Hier­zu sind Hei­leu­ryth­mie und Sprach­the­ra­pie von beson­de­rem Nut­zen, da man bei die­sen The­ra­pi­en ganz indi­vi­du­ell auf den Entwicklungs­stand und die Bedürf­nis­se des Kin­des ein­ge­hen kann. In bestimm­ten Fäl­len ist eine psy­cho­lo­gi­sche Behand­lung von ent­schei­den­der Bedeu­tung.

Letzt­end­lich ist alles eine Fra­ge des Bewusst­seins. Wenn das Kind oder der Jugend­li­che nur ins „Hal­tungs­tur­nen“ oder die Phy­sio­the­ra­pie geschickt wird, ist ihm meist wenig gehol­fen. Mit sei­nen see­li­schen Nöten, inne­ren Kon­flik­ten und Ent­wick­lungs­hemm­nis­sen bleibt es allei­ne. Ich fin­de es sehr wich­tig, dass sich die ein­zel­nen The­ra­pi­en ergän­zen und die­se je nach Pati­ent indi­vi­du­ell ver­ord­net wer­den.

Durch inne­re und äus­se­re Bewe­gung kön­nen wir eine Hal­tung fle­xi­bel, beweg­lich, kor­ri­gier­bar und gesund hal­ten. Eine Hal­tung ist dann patho­lo­gisch, wenn sie fixiert, nicht mehr fle­xi­bel ist. Dies gilt für die Ana­to­mie, die inne­re Hal­tung, aber auch für die Poli­tik.

Autoren83

Fach­per­son Dr. med. Bern­hard Win­gei­er
Arbeits­schwer­punk­te Fach­arzt für Kin­der- und Jugend­me­di­zin, Aus­bil­dung zum Fach­arzt in der Kin­der­kli­nik in Bern.
Seit 1998 als Kin­der­arzt in der Ita Weg­man Kli­nik tätig. Seit 1999 in der Sta­ti­ons­lei­tung der Fami­li­en­sta­ti­on.
Betreu­ung der Kin­der auf der Fami­li­en­sta­ti­on und Unter­su­chun­gen der Neu­ge­bo­re­nen. Ambu­lan­te Sprech­stun­den­tä­tig­keit für das gan­ze Gebiet der Kin­der­heil­kun­de, im Spe­zi­el­len auch für anthro­po­so­phi­sche The­ra­pie bei all­er­gi­schen Erkran­kun­gen wie Asth­ma und Neu­ro­der­mi­tis sowie onko­lo­gi­sche Erkran­kun­gen.
Kon­takt 061 705 72 72

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