
Allergie ist heute ein Reizwort. Schon auf das Wort reagieren wir empfindlich. Denn alljährlich wird uns be-
wusst, dass die Allergien immer weiter zunehmen und in unserer westlichen Welt zu einer eigentlichen Zivilisationskrankheit, einer Volkskrankheit, geworden sind. Ungefähr 10 bis 20 % der Bevölkerung leiden zum Beispiel unter Heuschnupfen; das sind in der Schweiz etwa 1,4 Millionen Menschen. Und immer häufiger treten Allergien schon im frühen Säuglingsalter auf.
Allergie ist eine Fehlsteuerung des Immunsystems
Der Begriff Allergie wurde 1906 vom Wiener Kinderarzt Pirquet eingeführt. Er verstand darunter eine veränderte Reaktionsfähigkeit des Organismus.
Heute gehen wir davon aus, dass der Organismus auf bestimmte Stoffe aus der Umwelt, so genannte Allergene, die für nicht-allergische Menschen harmlos sind, überschiessend oder besonders aggressiv, also nicht der Situation angepasst reagiert. Auslösende Stoffe können Gräser, Blütenpollen, Tierhaare, Insektengifte, Hausstaub-
milben, Medikamente, Lebensmittel und vieles andere mehr sein. Die Allergie kann sich auf der Haut (Neurodermitis), den Schleimhäuten (Heuschnupfen), den Atemwegen (beim Asthma) und durch allgemeine Symptome wie Fieber, Kopfschmerzen äussern.
Fremdes zu eigen machen
Wie geht der menschliche Organismus normalerweise mit Fremdeinflüssen um?
Er hat ein absolutes Integrationsbestreben, er will sich eine eigene Welt schaffen und gegenüber der Aussenwelt autonom sein. An den Grenzflächen – der Haut und den Schleimhäuten – wird vieles schon abgefangen und am Eindringen in den Körper gehindert. Was diese erste Barriere überwindet, muss zuerst vom Körper wahrgenommen und als fremd erkannt werden. In einem weiteren Schritt handelt der Körper: Das Fremde wird abgebaut, vernichtet und entweder als nun Eigenes aufgenommen oder als fremd geblieben ausgeschieden. Einen solchen Abbau- bzw. Umwandlungsprozess praktiziert unser Immunsystem tagtäglich bei der Ernährung und bei der Abwehr von Millionen von Erregern. Letztgenanntes entspricht eigentlich dem Entzündungsprozess. Zwischen dem Wahrnehmen und dem Handeln steht ein ausgleichender, vermittelnder Prozess mit Regulationsmechanismen – der Körper verarbeitet das Wahrgenommene. So sorgt unser Körper dafür, dass der ganze Prozess nicht ungezielt abläuft, sondern in einem Gleichgewicht bleibt. Das Immunsystem arbeitet in diesem Sinne nach den gleichen Prinzipien wie unser Sinnessystem. Wenn wir mit unseren Sinnesorganen Sinnesreize aufnehmen, geschieht dies ebenfalls in der Abfolge von wahrnehmen, verarbeiten und handeln.
Weit über das Ziel hinaus
Bei der klassischen Allergie ist der Prozess von wahrnehmen, verarbeiten und handeln aus dem Gleichgewicht geraten. Das Wahrnehmen erfolgt in übergrossem Masse und zieht mit mehr oder weniger grossem zeitlichem Abstand eine überschiessende Handlung nach sich.
Die Übermässigkeit in der Wahrnehmung zeigt sich darin, dass häufig schon eine sehr kleine Menge des Auslösers genügt, um eine Reaktion auszulösen. Bekannt ist, dass die seelische Stimmung wesentlich zur Auslösung beitragen kann. In extremen Fällen reicht schon der Name einer bestimmten Pflanze für die heftige Reaktion beim Betroffenen aus. Auch fällt bei vielen Kindern, die zu Allergien neigen, auf, dass sie in den Sinnen hellwach sind und ihre Umgebung förmlich aufsaugen – es besteht eine Überwachheit und Überempfindlichkeit gegenüber Ausseneinflüssen.
Die übermässige Handlung sehen wir in der sehr starken Reaktion der Haut und der Schleimhäute (der Nase oder auch der Lunge). Diese schiessen weit über das Ziel der Abwehr hinaus. Es herrscht ein Ungleichgewicht der Kräfte. Der vermittelnde, ausgleichende Prozess der Verarbeitung fehlt.
Bei der Allergie haben wir es eigentlich mit demselben Prozess wie bei der Entzündung zu tun, nur fehlt bei der Allergie eben der Ausgleich im Verarbeiten. Es geht bei der Allergie nur noch um wahrnehmen und handeln.
Allergien – eine Zivilisationskrankheit der Industrieländer?
Heute hat man erkannt, dass der Lebensstil in den Indust-rieländern ein wesentlicher allergiebeeinflussender Faktor ist. Wir leben in einer hektischen, reizüberfluteten Zeit, mit einem enormen Informationsüberfluss, den wir gar nicht mehr verarbeiten können. Die Gesellschaft ist auf Quantität und Effizienz ausgerichtet. Kommunikation beschränkt sich vor allem auf den effizienten, störungsfreien Austausch zwischen Sender und Empfänger. Das Zwischenmenschliche wird immer mehr vernachlässigt. Auch hierin ist das Missverhältnis zwischen Wahrnehmen, Handeln und dem mangelhaften Verarbeitungsprozess erkennbar.
Die Medizin unserer industrialisierten Welt definiert sich heute vielfach durch das Verhindern und Bekämpfen von Krankheit, insbesondere von Entzündungskrankheiten. Fie-
ber macht uns Angst. Wir haben verlernt, mit natürlichen Reaktionen unseres Körpers auf äussere Einflüsse umzugehen. Von der WHO wird ein Recht auf Gesundheit proklamiert. Um dieses Grundrecht zu erfüllen, werden vornehmlich Entzündungskrankheiten bekämpft beziehungsweise mit Hilfe der Impfungen verhindert. Hier werden auch Erfolge erzielt. Doch sind es in unserer westlichen, industrialisierten Welt wahrhaftig nur Erfolge? Sind wir wirklich gesünder geworden? Hat es nicht vielmehr eine enorme Verlagerung der Erkrankungen gegeben? Von den Entzündungskrankheiten zu den Allergien?
Unser Immunsystem positiv beeinflussen
In mehreren Studien wurde der Zusammenhang zwischen dem Lebensstil und den durchgemachten Entzündungen sowie dem Auftreten von Allergien aufgezeigt. In einer grossen vielbeachteten schwedischen Studie konnte gezeigt werden, dass ein Durchmachen von Infekten mit restriktivem Antibiotikaeinsatz, eine Ernährung mit laktobazillenhaltigen Lebensmitteln und ein „anthroposophischer Lebensstil“ (untersucht wurden bestimmte Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel Schüler an Rudolf-Steiner-Schulen) das Auftreten von Allergien günstig beeinflussen kann. Auch in anderen Studien konnte gezeigt werden, dass das Durchmachen von Infekten sich günstig auswirkt: Das Immunsystem kann „trainieren“. Es wird nicht unnatürlich manipuliert.
Viel kann erreicht werden, wenn wir in unserem Alltag das Wahrnehmen, Verarbeiten und Handeln ganz bewusst üben und anwenden. Wir können wieder in ein Gleichgewicht finden, das sich positiv auf die Allergie auswirkt. Dies beginnt schon im frühesten Kindesalter. Wenn wir die Sinneswahrnehmung des Kindes mit zu vielen und unnatürlichen Reizen überlasten, wird das beschriebene Gleichgewicht von Anfang an gestört. Geben wir dem Kind stattdessen Zeit, ein Spielzeug in Ruhe zu betrachten, mit ihm vertraut zu werden und damit zu spielen. Wichtig für die Qualität der Sinneserfahrung ist dabei auch, aus welchem Material das Spielzeug ist.
In den künstlerischen Therapien (zum Beispiel Heileurythmie, Musiktherapie, Maltherapie, Sprachtherapie) können wir an dem Gleichgewicht von Wahrnehmen, Verarbeiten und Handeln arbeiten. So kann unser Körper wieder aus einer fehlgeleiteten in eine normale Reaktionslage kommen.
Fachperson | Dr. med. Bernhard Wingeier |
Arbeitsschwerpunkte | Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Ausbildung zum Facharzt in der Kinderklinik in Bern. Seit 1998 als Kinderarzt in der Ita Wegman Klinik tätig. Seit 1999 in der Stationsleitung der Familienstation. Betreuung der Kinder auf der Familienstation und Untersuchungen der Neugeborenen. Ambulante Sprechstundentätigkeit für das ganze Gebiet der Kinderheilkunde, im Speziellen auch für anthroposophische Therapie bei allergischen Erkrankungen wie Asthma und Neurodermitis sowie onkologische Erkrankungen. |
Kontakt | 061 705 72 72 |